Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit § 159 Absatz 1
Nr. 2
SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Artikel 8
Nr. 8a des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2001 (BGBl. I.
S. 3057). Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (I.) und - so die Neufassung des Gesetzes - auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist (II.).
I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Absatz 1
Nr. 2
SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, Rn. 3a zu § 159
SGG). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).
1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Absatz 1 Satz 2
SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Absatz 1 Satz 1
SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es den Kläger entgegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz seinem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Absatz 1 Satz 1
SGG in Verbindung mit § 125
SGG), entzogen.
Nach § 105 Absatz 1 Satz 1
SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Absatz 1 Satz 1
SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Denn unter dem Tatbestandsmerkmal des § 105 Absatz 1 Satz 1
SGG, dass der Sachverhalt geklärt sein muss, ist mehr zu verstehen als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106
SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dass die Voraussetzungen in § 105 Absatz 1 Satz 1
SGG enger zu fassen sind, folgt aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (
vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011 - L 13 SB 80/10, bei Juris).
Hier haben die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter nicht vorgelegen, da das Sozialgericht bereits nicht seiner allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen hat (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103
SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind.
Für die Entscheidung über die streitige Höhe des Gesamt-
GdB kam es nach eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich darauf an, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger bestehen und wie die hieraus folgenden Teilhabeeinschränkungen einzuschätzen sind.
Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht (
BSG) an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt (
vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). In einem - wie dem Schwerbehindertenrecht - medizinisch geprägtem Sachgebiet darf sich ein Gericht mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen. Auch berechtigen etwaige medizinische Grundkenntnisse, die im Zuge der richterlichen Tätigkeit in betreffenden Sparten erworben wurden, jedenfalls nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, ist überdies darzulegen, auf welcher Grundlage diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen können (
vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 36/85, SozR 1500 § 128
Nr. 31). Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden. Sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen. Den behandelnden Ärzten fehlt überdies in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Außerdem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht (auch nicht ungewollt) dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (
vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Dies ist im Verfahren des ersten Rechtszuges insoweit versäumt worden, als lediglich Befundberichte eingeholt worden sind.
Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Es ist nicht hinreichend aufgeklärt worden, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger bestehen und welche Teilhabebeeinträchtigungen sie zeitigen. Im Hinblick auf die Diabeteserkrankung des Klägers berichten die den Kläger behandelnden Allgemeinmediziner M und S übereinstimmend, dass die Blutzuckerwerte des Klägers wegen dessen fehlender Compliance schlecht einzustellen seien und fortlaufend seit 2009 stiegen. Ob eine Polyneuropathie vorliegt, bleibt nach den Berichten der behandelnden Ärzte unklar und wäre durch eine Begutachtung des Klägers ebenso zu klären wie die Frage, ob und
ggf. welche Einschnitte in der Lebensführung des Klägers durch die Therapie auftreten. Angesichts der berichteten fehlenden Mitarbeit des Klägers und der aus den vorhandenen medizinischen Unterlagen zu entnehmenden Hinweise auf eine seelische Erkrankung bestehen zumindest Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seinen behandelnden Ärzten diesbezüglich keine umfänglichen Angaben gemacht haben könnte. In diesem Zusammenhang ist zudem festzustellen, dass auf psychiatrischem Sachgebiet nicht - wie das Sozialgericht meint - lediglich ein Krankenhausbericht aus dem Jahr 2004 vorliegt, der von einer depressiven Stimmungslage des Klägers berichtet, sondern auch die Mitteilung der Allgemeinmedizinerin M in ihrem Befundbericht vom 19. März 2009. Der Allgemeinmediziner S beschreibt als vom Kläger geäußerte Beschwerden neben lumbalen Beschwerden und Harndrang auch psychoreaktive Zustände. Anhaltspunkte für weiteren Aufklärungsbedarf folgen schließlich auch auf neurologisch/schmerz-therapeutischem sowie orthopädischem Fachgebiet. Der den Kläger behandelnde Orthopäde
Dipl. Med. P hat den Kläger entgegen der Einschätzung des Sozialgerichts ausweislich der vorgelegten Rechnung vom 30. August 2012 auch schon vor dem 25. August 2011 behandelt und ist damit nicht nur einmal konsultiert worden. Bereits gegenüber dem Sozialgericht hat der Orthopäde - der Befundbericht wurde vom Kläger beigebracht und nicht etwa vom Sozialgericht eingeholt - angegeben, bei dem Kläger lägen neben chronischen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten häufig rezidivierende Bewegungseinschränkungen vor. Der Kläger sei durch Fußdeformitäten in seinem Bewegungsradius eingeschränkt. Damit hat der Orthopäde tatsächlich nicht nur Diagnosen, sondern auch Funktionsbeeinträchtigungen angegeben, denen durch Einholung eines Gutachtens hätte nachgegangen werden müssen. Mit der Berufung werden auch chronische Schmerzen geltend gemacht; die vorgelegte Rechnung deutet auf eine Behandlung mit Injektionen hin. Auch den sich daraus stellenden Fragen hätte das Sozialgericht im Wege der Beweiserhebung nachgehen müssen.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, ist der danach vorliegende Verfahrensmangel auch wesentlich.
II. Auf Grund der unvollständigen Sachverhaltsaufklärung bleibt eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig. Davon ist auszugehen, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (
vgl. BT-Drucks. 17/6764,
S. 27, zu Artikel 8
Nr. 8). Dies ist hier der Fall. Denn vorliegend muss der Sachverhalt dadurch weiter aufgeklärt werden, dass Gutachten auf den Gebieten Inneres, Psychiatrie, Neurologie/Schmerztherapie und Orthopädie gemäß § 106 Absatz 3
Nr. 5
SGG einzuholen sind. Soweit das Sozialgericht einen Allgemeinmediziner als geeignet ansieht, die auf diesen Fachgebieten liegenden einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen zu ermitteln und die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers in ihrer Gesamtheit zu würdigen, wird es diesem auch die Frage nach der Notwendigkeit der Einholung weiterer - fachärztlicher - Sachverständigengutachten zu stellen und - sollte diese bejaht werden - dieser Empfehlung nachzukommen haben. Bereits mit der Einholung eines Gutachtens ist typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung des einzuholenden Gutachtens auch erheblicher personeller Mittel verbunden, das je nach der Sach- und Rechtslage
ggf. auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen kann (
vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2010,
L 13 SB 212/11).
III. Im Rahmen seines nach § 159
SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen vollständigen Aufklärung des Sachverhalts praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 27. April 2012 bis zum Tag der Verkündung des Urteils nur knapp sieben Monate in Anspruch genommen, so dass es prozessökonomischer erscheint, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Zudem haben die Beteiligten selbst übereinstimmend die Zurückverweisung an das Sozialgericht beantragt.
Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags ist über den Hilfsantrag nicht mehr zu befinden.
Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Absatz 2
SGG) sind nicht gegeben.