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Urteil
Endgültiger Vertrauensverlust bei Vorliegen eines Dienstvergehen - Vorliegen eines Zugriffsdelikts - Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung des Fehlverhaltens bzw. der Wiedergutmachung des Schadens vor Tatentdeckung - Milderungsgrund einer schockartig ausgelösten psychischen Ausnahmesituation

Gericht:

VG Münster 1. Disziplinarkammer


Aktenzeichen:

13 K 1765/11.O


Urteil vom:

05.03.2013


Grundlage:

  • BeamtStG § 34 |
  • BeamtStG § 47 Abs. 1 S. 1 |
  • DG NW § 13

Tenor:

Der Beklagte wird wegen Dienstvergehens aus dem Beamtenverhältnis entfernt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Rechtsweg:

OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.08.2015 - 3d A 895/13.O
BVerwG, Beschluss vom 20.12.2016 - 2 B 110.15

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Tatbestand:

Der am 0000 geborene Beklagte besuchte von 1972 bis 1975 die Berufsfachschule C. und erwarb dort die Fachoberschulreife. Die anschließend aufgenommene Ausbildung zum Schlosser schloss er am 4. Juli 1977 mit der Gesellenprüfung ab. Bis März 1978 war er in seinem Ausbildungsbetrieb als Schlosser tätig. In der Zeit von 0000 bis zum 0000 leistete der Beklagte als Zeitsoldat Dienst bei der Bundeswehr, zuletzt mit dem Dienstgrad Oberfeldwebel. Am 1. August 1988 wurde er unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Stadtassistentenanwärter bei der M. E. ernannt. Da er im Mai 1990 nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen wurde, verlängerte sich der Vorbereitungsdienst um ein Jahr. Im Juli 1991 bestand der Beklagte die Laufbahnprüfung für den mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst; mit Wirkung vom 5. Juli 1991 wurde er unter Verleihung der Eigenschaft eines Beamten auf Probe zum Stadtassistent z. A. ernannt. Im September 1992 wurde der Beklagte auf seinen Antrag hin in den Geschäftsbereich der Klägerin versetzt und dort dem Ordnungsamt zugewiesen. In der Folgezeit wurde er - neben seiner Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit im Juli 1993 - regelmäßig befördert, zuletzt im Juni 1998 zum Stadthauptsekretär. In den Regelbeurteilungen wurden die Leistungen des Beklagten regelmäßig - zuletzt im Juli 2010 - mit "4 Punkte = den Anforderungen entsprechend" bewertet.

Der Beklagte ist verheiratet und Vater eines 0000 geborenen Sohnes.

Mit Ausnahme des hier zu beurteilenden Sachverhalts ist der Beklagte weder straf- noch disziplinarrechtlich in Erscheinung getreten.

Zu den Aufgabe des Beklagten gehörte u. a. die Erteilung von Erlaubnissen und Unbedenklichkeitsbescheinigungen nach dem Sprengstoffgesetz. Am 13. Dezember 2010 fiel dem Sachgebietsleiter des Bereichs "allgemeine Gefahrenabwehr", T. T1. Q. , auf, dass sich ein Bürger überdurchschnittlich lange bei dem Beklagten aufhielt. Auf Nachfrage teilte der Beklagte seinem Sachgebietsleiter mit, dass er diesem Bürger für drei Personen Erlaubnisse nach § 27 des Sprengstoffgesetzes fertiggestellt und ausgehändigt habe. Bei einer daraufhin durchgeführten Überprüfung fiel auf, dass der Beklagte dieser Person bereits am 17. September 2010 gegen Zahlung von 306,80 Euro (4 x 76,70 Euro) vier Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausgehändigt, aber keine entsprechende Einzahlung in die Barkasse der Ausländerbehörde getätigt hatte. Die für die am 13. Dezember 2010 erteilten drei Erlaubnisse gezahlten Gebühren von 150 Euro (3 x 50 Euro) sowie die für die vierte Erlaubnis bereits am 8. Dezember 2010 vereinnahmte Gebühr von 50 Euro hatte der Beklagte ebenfalls nicht weitergeleitet. Nachdem er am 14. Dezember 2010 mit diesen Feststellungen konfrontiert worden war, zahlte er am 15. Dezember 2010 zunächst insgesamt 456,80 Euro in die Barkasse der Ausländerbehörde ein. Am Vormittag des 16. Dezember 2010 zahlte der Beklagte einen weiteren Betrag i. H. v. 1.860,70 Euro ein. Die Summe von insgesamt 2.317,50 Euro entsprach den für das gesamte Jahr 2010 fälligen Gebühren. Als er mitbekam, dass weitere Recherchen angestellt würden, zahlte er am Mittag des 16. Dezember 2010 einen weiteren Betrag i. H. v. 690,30 Euro ein. Diese Summe entsprach den für das Jahr 2009 fälligen Gebühren.

In einer schriftlichen Stellungnahme vom 16. Dezember 2010 führte der Beklagte aus, dass er die Gebühr für die vier Unbedenklichkeitsbescheinigungen in einem Briefumschlag in seinem Schreibtisch gelagert habe und sich nicht mehr erklären könne, warum er diese Gebühren nicht eingezahlt habe. Er könne sich dies nur durch den von ihm erlittenen Schlaganfall, eigene Dummheit und Vergesslichkeit sowie mit erheblichen Eheproblemen erklären.

Im Zuge der weiteren Ermittlungen stellte sich heraus, dass der Beklagte seit dem Jahre 2002 in insgesamt 180 Fällen vereinnahmte Gebühren i. H. v. insgesamt 12.886,60 Euro nicht weitergeleitet, sondern für sich behalten hatte.

Mit Verfügung vom 10. Januar 2011 leitete die Klägerin gegen den Beklagten das Disziplinarverfahren ein. Mit Verfügungen vom 20. Januar 2011 und vom 11. März 2011 wurde der Beklagte vorläufig des Dienstes enthoben. Mit Strafbefehl vom 16. Mai 2011 stellte das Amtsgericht C. fest, dass der Beklagte sich wegen Untreue schuldig gemacht habe und sprach deswegen eine Verwarnung aus. Die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 30 Euro blieb vorbehalten. Dem Beklagten wurde die Zahlung eines Geldbetrages von 2.500 Euro binnen eines Jahres nach Rechtskraft des Strafbefehls auferlegt.

Der Beklagte führte im Rahmen des Disziplinarverfahrens in einer ausführlichen Stellungnahme im Wesentlichen aus: Seit einem Schlaganfall im August 2009 und zu kurzer Rehabilitation habe er unter erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen gestanden. Im Rahmen der Diagnostik des erlittenen Schlaganfalls sei aufgrund von sogenannten Schlagmarken im EEG festgestellt worden, dass es sich bereits um den zweiten Schlaganfall gehandelt habe. Ein früherer, unbehandelter Schlaganfall habe indes aber zeitlich nicht genau zugeordnet werden können. Seit seinem Schlaganfall im August 2009 habe er unter Blackout und Ausfall von Kleinhirnfunktionen sowie erheblicher Vergesslichkeit gelitten. Seine persönliche Situation sei außerdem durch erhebliche Eheprobleme über eine mögliche Trennung überlagert gewesen. Er werde derzeit stationär wegen Depressionen behandelt. Er habe diese Behandlung jetzt gezielt eingeleitet, nachdem er nach seiner eigenen Einschätzung schon lange unter einem Leidensdruck schwerer depressiver Symptome gestanden habe. Seine Dienstfähigkeit seit dem Jahre 2009 sei nach seiner eigenen Einschätzung nicht nur durch die Folgen des Schlaganfalls, sondern auch durch immer wiederkehrende schwere Depressionssymptome eingeschränkt gewesen. Dies könne auch den übrigen Mitarbeitern des Ordnungsamts nicht verborgen geblieben sein. Weshalb er in den Jahren 2002 und 2003 vereinnahmte Gebühren nur teilweise und in den Jahren 2004 bis 2008 überhaupt nicht in die Barkasse der Ausländerbehörde eingezahlt habe, sei ihm selbst ein Rätsel. Er habe die vereinnahmten Gelder in seinen Schreibtischschubladen abgelegt und sich nicht mehr um die notwendige Einzahlung gekümmert. Von jeher habe es im Ordnungsamt einen kleineren Kreis von Kollegen aller Dienstebenen gegeben, die untereinander und jeweils "umlaufend" alkoholische Getränke beschafft und konsumiert hätten. Er sei sozusagen in diese Verhältnisse hineingekommen und habe sich schließlich daran beteiligt, wobei er ab und an aus den vereinnahmten Einzahlungen Beträge für die Beschaffung von alkoholischen Getränken entnommen habe. Insbesondere mache ihm jedoch zu schaffen, dass er mit einem großen Teil der vereinnahmten und nicht eingezahlten Gelder schließlich einen Gebrauchtwagen als "vorgezogenes" Geburtstagsgeschenk für seine Ehefrau erworben habe. Er bringe dieses für ihn völlig persönlichkeitsfremde Verhalten mit einer spontanen Druckentladung in Verbindung. Er habe sich bereits seit langem in einem bedrückenden seelischen Zustand befunden und unter erheblichen Angstzuständen und Verlustängsten hinsichtlich seiner Ehefrau gelitten. In diesen Zusammenhang sei in die Betrachtung mit einzubeziehen, dass es auch seiner Ehefrau schlecht gegangen sei. Bei ihr hätten im Jahr 2004 gesundheitliche Beschwerden begonnen, die sich bis ca. 2006 hingezogen hätten. Sie habe selbst unter Depressionssymptomen gelitten und ein Antidepressivum verschrieben bekommen, um überhaupt in ihren Alltag zurückzufinden. Dabei sei er ihr immer eine Stütze gewesen und habe sich für jeden ihrer Arzttermine frei genommen und sie begleitet. Letztlich habe er auch nur deshalb den spontanen Entschluss zum Erwerb des Fahrzeuges gefasst, um einen "Stern" in diese für beide Ehegatten sehr schwierige Situation zu bringen. Die Mutter seiner Ehefrau sei zudem im Jahr 2005 mit einem Krebsbefund im Endstadium ins Krankenhaus gekommen. Seine Ehefrau und er hätten sie bis zu ihrem Tod in dem Sterbehospiz in S. begleitet. Zeitgleich hätten sie sich um die Haushaltsauflösung sowie um den Nachlass und die Beerdigung kümmern müssen. Zugleich hätte ihr Sohn C1. erhebliche schulische Probleme gehabt, die schließlich zur Nichtversetzung geführt hätten. Vorausgegangen sei noch eine Zerrüttung des Verhältnisses zu seinen Eltern. Unter den gegebenen Umständen sei davon auszugehen, dass er seinerzeit bereits unter starken Depressionen gelitten habe. Einzig dies erkläre die herabgesetzte Hemmschwelle und letztlich Gleichgültigkeit im Umgang mit den anvertrauten dienstlichen Geldern im Zusammenhang mit dem Spontanentschluss zum Kauf eines Gebrauchtwagens für seine Ehefrau. Vor diesem Hintergrund spreche Vieles dafür, dass es nicht auszuschließen sei, dass er aufgrund einer damals bereits vorhandenen, unbehandelt gebliebenen chronischen Depressionserkrankung nur eingeschränkt steuerungsfähig gewesen sei, als er mit dadurch bedingter herabgesetzter Hemmschwelle auf dienstlich anvertraute Gelder zugegriffen habe, um seiner Ehefrau "etwas Gutes zu tun". Es seien zahlreiche persönliche positive Charaktereigenschaften vorhanden. Er habe über Jahre überdurchschnittliche Leistungen bei starker dienstlicher Beanspruchung erbracht und sei aktiv darum bemüht, seine Depressionserkrankung gezielt zu behandeln und seine Dienstfähigkeit wiederherzustellen. Er sei auch bereit, bei der Aufklärung des Sachverhalts umfassend mitzuwirken. Unter umfassender Würdigung des Persönlichkeitsbildes müsse daher nicht von einem endgültigen Vertrauensverlust ausgegangen werden. Zu berücksichtigen sei auch, dass insbesondere in den Jahren 2009 und 2010 Kontrollmaßnahmen anlässlich der offenkundig eingeschränkten körperlichen bis hin zu Gedächtnisverlusten reichenden Leidenssymptome an sich unerlässlich gewesen seien. Bei diesem Zeitraum müsse von einer Minderung der Eigenverantwortung bei an sich gebotener intensiverer Dienstaufsicht und Fürsorgemaßnahmen ausgegangen werden.

Am 11. August 2011 hat die Klägerin vorliegende Disziplinarklage erhoben, mit der sie dem Beklagten vorwirft, beginnend im Kalenderjahr 2002 und fortlaufend bis Ende 2010 Gebühren in 180 Fällen mit einem Gesamtbetrag i. H. v. 12.886,60 Euro im Sachgebiet Sprengstoffwesen erhoben und Gelder angenommen zu haben, die er jedoch nicht oder nicht unmittelbar nach Annahme an eine Einnahmekasse des Fachbereiches weitergeleitet habe. Der Beklagte habe im Kernbereich seiner Pflichten versagt und gegen elementare Grundsätze des Gebühren- und Kassenwesens verstoßen. Rechtfertigungs- sowie Schuldausschließungsgründe lägen nicht vor. Ebenso könne eine verminderte Schuldfähigkeit nicht angenommen werden, da es sich hier um eine eigennützige Verletzung einer leicht einsehbaren Kernpflicht handele. Die angeführten familiären Schwierigkeiten und gesundheitlichen Einschränkungen (Depressionen, Schlaganfall) vor und nach dem Schlaganfall 2009 rechtfertigten einen Zugriff auf vereinnahmte Gebühren nicht. Der Beklagte habe bereits ab März 2002 ungehemmt auf dienstliche Gelder zugegriffen und dadurch eine leicht einsehbare Kernpflicht bereits sieben Jahre vor dem Schlaganfall im Jahr 2009 eigennützig verletzt. Hinweise auf eine chronisch unbehandelte Depressionserkrankung und eine dadurch bedingte eingeschränkte Steuerungsfähigkeit des Beklagten seien für dessen Vorgesetzte nicht erkennbar gewesen. Die gesundheitliche und familiäre Situation im Zeitraum der Verfehlungen entschuldigten oder rechtfertigten in keiner Weise, sich am Vermögen des Dienstherrn zu seinem eigenem Vorteil zu vergreifen. Eine psychische Ausnahmesituation, d. h. ein schockbedingtes Versagen, sei anhand der beschriebenen persönlichen und krankheitsbedingten Situation nicht ersichtlich. Ebenso handele es sich nicht um eine einmalige persönlichkeitsfremde kurzschlussartige Gelegenheitstat. Der Beklagte sei zielgerichtet und geplant vorgegangen. Er habe sein Fehlverhalten auch nicht freiwillig und vor Entdeckung vollständig und vorbehaltlos offenbart. Er habe auch erst nach Entdeckung seines Fehlverhaltens durch insgesamt vier Einzahlungen eine Wiedergutmachung des Gesamtschadens veranlasst. Es komme dem Beklagten auch nicht zu Gute, dass er sich in fast neunzehnjähriger Tätigkeit bei der Stadtverwaltung sowie vorheriger dreizehnjähriger Tätigkeit bei der Bundeswehr und der M1. E. beanstandungsfrei verhalten habe.


Die Klägerin beantragt,

den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise, eine andere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Dienst anzuordnen.

Er führt im Wesentlichen aus: Das Vertrauen des Dienstherrn sei nicht in einem solchen Maße beeinträchtigt worden, dass von einer endgültigen und nicht rückgängig zu machenden Zerstörung des Vertrauens gesprochen werden müsse. Es habe sich um eine persönlichkeitsfremde Tat gehandelt. Er habe den Schaden insgesamt ausgeglichen und sei straf- und disziplinarrechtlich nicht vorbelastet. Er habe keine eigennützigen Motive gehabt, als er mit einem großen Teil des vereinnahmten Geldes einen Gebrauchtwagen für seine Ehefrau angeschafft habe. Vielmehr habe er sich bereits seit langem in dem dargestellten bedrückenden Zustand befunden. Zwar habe eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit regelmäßig keine maßnahmemildernde Wirkung, wenn das Dienstvergehen in der Verletzung einer Kernpflicht bestehe. Allerdings sei in die Betrachtung mit einzubeziehen, dass Kontrollmaßnahmen des Dienstherrn anlässlich der offenkundig eingeschränkten körperlichen bis hin zu Gedächtnisverlusten reichenden Leidenssymptomen an sich unerlässlich gewesen seien. Es sei auch denkbar, dass die Nichtabführung der vereinnahmten Gebühren Folge eines Überforderungssyndroms gewesen sei. Er habe förmlich die Übersicht verloren und aufgrund seiner Gedächtnisausfälle und Konzentrationsstörungen die Vorgänge teilweise nicht mehr nachvollziehen können. Unter diesen Umständen seien hinreichende tatsächliche Anknüpfungspunkte dafür vorhanden gewesen, dass Kontrollmaßnahmen unerlässlich gewesen seien. Auch die Staatsanwaltschaft Essen habe eine individuelle strafrechtliche Würdigung vorgenommen und angesichts der Gesamtumstände genügende Anknüpfungspunkte zu einer Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO gesehen. Allein die Klägerin habe sich geweigert dieser beabsichtigten Verfahrenserledigung zuzustimmen. Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht hätten mit der auf der Grundlage des § 59 StGB erlassenen Verwarnung mit Strafvorbehalt sichtbares Vertrauen in den Beklagten gesetzt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Beiakten Hefte 1 bis 3) sowie der beigezogenen Strafakte (Beiakte Heft 4) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet. Der Beklagte ist aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.


I.

Aufgrund seiner geständigen Einlassung sowie der sich aus den Akten ergebenden Beweislage geht die Kammer in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass der Beklagte in der Zeit von März 2002 bis Dezember 2010 fortlaufend in 180 Fällen Gebühren im Sachgebiet Sprengstoffwesen mit einem Gesamtbetrag i.H.v. 12.886,90 Euro erhoben und die eingenommenen Gelder nicht an die Einnahmekasse des Fachbereichs (Barkasse der Ausländerbehörde) weitergeleitet, sondern für sich behalten hat.


II.

Die disziplinarrechtliche Würdigung des unter I. festgestellten Sachverhalts ergibt, dass der Beklagte vorsätzlich ein - einheitlich zu bewertendes - schweres Dienstvergehen begangen hat. Nach dem für den hier in Rede stehenden Zeitraum bis zum 31. März 2009 geltenden § 83 Abs. 1 Landesbeamtengesetzes (LBG NRW a. F.) bzw. dem für den nachfolgenden Zeitraum geltenden § 47 Abs. 1 Satz 1 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) begeht ein Beamter ein Dienstvergehen, wenn er die ihm obliegenden Pflichten schuldhaft verletzt. Der Beklagte hat durch die vorsätzliche und strafbare Veruntreuung der ihm anvertrauten Gelder über Jahre hinweg gegen die ihm obliegende Pflichten verstoßen, sein Amt uneigennützig zu verwalten (§ 57 Satz 2 LBG NRW a. F. bzw. § 34 Satz 2 BeamtStG) und sein Verhalten innerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden zu lassen, die sein Beruf erfordert (§ 57 Satz 3 LBG NRW a. F. bzw. § 34 Satz 3 BeamtStG). Es handelt sich um ein schweres einheitliches Dienstvergehen im Kernbereich seiner Aufgaben.


III.

Ausgangspunkt für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme ist die Schwere des nachgewiesenen Dienstvergehens. Das Persönlichkeitsbild des Beamten ist angemessen zu berücksichtigen. Ferner soll berücksichtigt werden, in welchem Umfang das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit in den Beamten beeinträchtigt worden ist (§ 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 LDG NRW). Ein Beamter, der durch ein Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat, ist aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen (§ 13 Abs. 3 Satz 1 LDG NRW). Ein endgültiger Vertrauensverlust ist eingetreten, wenn die Prognose ergibt, dass der Beamte auch künftig seinen Dienstpflichten nicht nachkommen werde oder die Ansehensschädigung nicht wieder gut zu machen ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 31. August 2011 - 3d A 711/10 m. w. N.). So liegt der Fall hier.

Bei sogenannten Zugriffsdelikten, das heißt für den Fall des Zugriffs auf dienstlich anvertraute Gelder oder Güter, ist aufgrund der Schwere des begangenen Dienstvergehens die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen. Der Zugriff des Beamten auf mehr als geringwertige Gelder oder Güter wiegt grundsätzlich so schwer, dass die Verwirklichung des Zugriffsdelikts seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis indiziert.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. Dezember 2012 - 3d A 1614/11.O - , und vom 13. April 2011 - 3d A 980/10.O - , jeweils m. w. N.

Die von der Schwere ausgehende Indizwirkung entfällt jedoch, wenn zu Gunsten des Beamten gewichtige Entlastungsgründe zu berücksichtigen sind, die den Schluss rechtfertigen, der Beamte habe das Vertrauen noch nicht endgültig verloren. Solche Gründe stellen auch, aber nicht nur die von der Rechtsprechung zu den Zugriffsdelikten entwickelten sogenannten anerkannten Milderungsgründe dar, die besondere Konfliktsituationen (Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, in einer psychischen Ausnahmesituation oder in einer besonderen Versuchungssituation) und Verhaltensweisen mit noch günstigen Persönlichkeitsprognosen (freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder Offenbarung des Fehlverhaltens vor Tatentdeckung, Zugriff auf geringfügige Gelder oder Güter) umschreiben. Entlastungsgründe können sich aus allen Umständen ergeben. Sie müssen in ihrer Gesamtheit aber geeignet sein, die Schwere des Pflichtverstoßes erheblich herabzusetzen. Generell gilt, dass das Gewicht der Entlastungsgründe umso größer sein muss, je schwerer das Zugriffsdelikt aufgrund der Schadenshöhe, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von Begleitdelikten und anderen belastenden Gesichtspunkten im Einzelfall liegt. Erforderlich ist stets eine Prognoseentscheidung zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung auf der Grundlage aller im Einzelfall be- und entlastenden Umstände.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. Dezember 2012 - 3d A 1614/11.O - , und vom 13. April 2011 - 3d A 980/10.O - , m. w. N.

Anerkannte Milderungsgründe liegen hier nicht vor.

Der Beklagte hat das Dienstvergehen nicht in einer unverschuldeten ausweglosen wirtschaftlichen Notlage begangen. Anhaltspunkte hierfür sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Beklagte kann sich auch nicht auf den Milderungsgrund einer abgeschlossenen negativen Lebensphase berufen. Dieser Milderungsgrund betrifft ein Dienstvergehen, dessen Wurzeln nicht in der Persönlichkeit des Beamten zu suchen ist, sondern in Umständen, die vorübergehend auf den Beamten eingewirkt haben. Vor dem Hintergrund, dass ein Zugriffsdelikt in der Regel die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nach sich zieht, sind die Voraussetzungen einer disziplinarrechtlich erheblichen negativen Lebensphase nur bei individuellen Extremsituationen erfüllt. Solche Umstände sind weder dargelegt noch ersichtlich. Die seit 2004 angespannte familiäre Situation aufgrund Erkrankung seiner Ehefrau, Krebserkrankung seiner Schwiegermutter und Zerrüttung des Verhältnisses zu seinen Eltern und seine gesundheitliche Situation (Schlaganfall im August 2009, möglicherweise bereits zuvor erlittener Schlaganfall, wiederkehrende Depressionssymptome) haben sicherlich dazu geführt, dass der Beklagte diese Zeiten als beschwerlich empfunden hat. Dass er sich bereits seit März 2002 über einen Zeitraum von neun Jahren nahezu durchgehend in einer individuellen, seine fortlaufend begangenen Verfehlungen erklärenden Extremsituation befunden haben soll, ist damit indes nicht dargetan.

Dem Beklagten kommt auch nicht der Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung des Fehlverhaltens bzw. der Wiedergutmachung des Schadens vor Tatentdeckung zugute. Dieser Milderungsgrund ist nur dann anzunehmen, wenn der Beamte nach dem Zugriff auf amtlich anvertrautes Geld vor Entdeckung der Tat sein Fehlverhalten freiwillig offenbart bzw. den angerichteten Schaden aufgrund eigenen Antriebs ohne Furcht vor Entdeckung wiedergutmacht. Beides ist hier nicht der Fall, das Geständnis des Beklagten und die Rückzahlung des veruntreuten Geldes erfolgten erst, nachdem der Beklagte mit dem konkreten Vorwurf konfrontiert worden war. Dabei hat er zudem auch nur schrittweise, dem ihm bekannten Stand der Ermittlungen entsprechend reagiert und nicht etwa bei dem ihm entgegengehaltenen ersten Verdacht das gesamte Ausmaß seiner Verfehlungen offenbart.

Der Milderungsgrund einer schockartig ausgelösten psychischen Ausnahmesituation lag angesichts des sich über einen Zeitraum von nahezu neun Jahren erstreckenden Fehverhaltens ebenfalls nicht vor.

Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, in einer besonderen Versuchungssituation gehandelt zu haben. Der Milderungsgrund käme in Betracht, wenn der Beklagte unter dem Einfluss eines von außen auf seine Willensbildung einwirkendes Ereignisses in Versuchung geraten wäre, sich in der vorgeworfenen Weise eigennützig zu verhalten. Hierbei muss das Ereignis geeignet sein, bei dem Betroffenen ein gewisses Maß an Spontanität, Kopflosigkeit und Unüberlegtheit auszulösen. Eine solche unvermutet entstandene besondere Versuchungssituation bestand vorliegend indes nicht. Der Beklagte beging das Dienstvergehen vielmehr - wie schon mehrfach ausgeführt - über einen langjährigen Zeitraum im Rahmen seiner gewohnten Tätigkeit.

Angesichts des veruntreuten Gesamtbetrages von 12.886,60 Euro greift auch nicht der Milderungsgrund der Geringwertigkeit. Die Wertgrenze hierfür orientiert sich an den Grundsätzen zu § 248a StGB und liegt bei etwa 50,- Euro. Diese Schwelle überschreitet der Betrag, auf den der Beklagte insgesamt zugegriffen hat, deutlich.

Dem Beklagten steht ferner nicht der einem anerkannten Milderungsgrund vergleichbare Umstand einer im Sinne der §§ 20, 21 StGB erheblich verminderten Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Begehung der Taten zur Seite. Um dies festzustellen, bedurfte es auch nicht der von dem Bevollmächtigten des Beklagten hilfsweise beantragten Beweiserhebung.

Erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne des § 20 StGB erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungs- bzw. Einsichtsfähigkeit ist maßgeblich. ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Dezember 2012 - 3d A 1614/11.O -.

Die insoweit unter Beweis gestellten Behauptungen des Beklagten sind pauschal und geben als solche keine Veranlassung zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung. Das Gericht ist nicht verpflichtet, einem unsubstantiierten Vorbringen nachzugehen. Es bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte - wie in dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Antrag ausgeführt - "im Zeitraum von 2002 bis 2010 als Folge stattgehabter Schlaganfälle und schwerer depressiver Episoden" nicht in der Lage gewesen sein soll, die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Das Vorbringen des Beklagten erschöpft sich im Ergebnis in der Mutmaßung, dass es nicht auszuschließen sei, dass er aufgrund einer damals bereits vorhandenen, unbehandelt gebliebenen chronischen Depressionserkrankung nur eingeschränkt steuerungsfähig gewesen sei, als er mit dadurch bedingter herabgesetzter Hemmschwelle auf dienstlich anvertraute Gelder zugegriffen habe, um seiner Ehefrau "etwas Gutes zu tun". Der Beklagte verkennt hier bereits, dass es im vorliegenden Zusammenhang nicht um die im Jahre 2006 getroffene singuläre Spontanentscheidung geht, einen PKW für seine Ehefrau zu erwerben und hierzu auf von ihm einbehaltene Gebühren zurückzugreifen. Es kommt nicht auf die Art der Verwendung der einbehaltenen Gebühren an. Der maßgebliche und im Kernbereich seiner Dienstpflichten liegende Pflichtenverstoß liegt vielmehr in der sich über einen Zeitraum von neun Jahren hinziehende Nichtweiterleitung von ihm vereinnahmter Gebühren. Während dieses Zeitraums war der Beklagte nie wegen einer Depressionserkrankung in ärztlicher Behandlung. Nach dem Kurzentlassungsbericht des St. B. -Krankenhaus in C. -L. war er zwar vom 10. Januar bis zum 18. März 2011 wegen einer schweren depressiven Episode in stationärer Behandlung. Für die Zeit, in der der Beklagte seine Pflichtverletzungen begangen hat, gibt der Bericht indes nichts her. Gleiches gilt im Ergebnis für den im vorliegenden Verfahren vorgelegten "Bericht über neuropsychologische Behandlung" der Diplom-Psychologin S1. G. vom 20. November 2011. Dieser Bericht gibt lediglich die Wahrnehmung der Ehefrau des Beklagten wieder und erschöpft sich darin, dass der Beklagte "vorher schon (seit über 10 Jahren lt. Ehefrau) unter depressiven Symptomen gelitten habe," er "erheblich belastet gewesen" sei und "unter Grübeln und Unruhezuständen gelitten" habe. Ein tragfähiger substantieller Anhalt dafür, dass und gegebenenfalls in welchen Zeiträumen eine die Schuldfähigkeit einschränkende depressive Erkrankung vorgelegen haben könnte, lässt sich diesem Bericht nicht entnehmen. Dies gilt namentlich vor dem Hintergrund, dass jedenfalls für die Zeit von 2002 bis 2003 keine belastenden Umstände erkennbar sind, die als Ursache für eine depressive Erkrankung hätten in Frage kommen können. Die dem Bevollmächtigten von dem Hausarzt des Beklagten gegebene Auskunft, "dass er es für möglich hält, dass eine schwere depressive Episode die Steuerungsfähigkeit erheblich herabsetzt", ist schließlich gänzlich allgemein gehalten und lässt schon keinen ausreichenden konkreten Bezug zu dem Beklagten erkennen.

Der im Jahre 2009 erlittene sowie der von dem Beklagten angeführte weitere - wann auch immer erlittene - Schlaganfall geben ebenfalls keinen tragfähigen substantiellen Anhalt für das Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit her. Der oben bereits angeführte "Bericht über neuropsychologische Behandlung" bescheinigt dem Beklagten lediglich erhebliche Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeitskomponenten, eine Störung der verbalen Lern- und Merkfähigkeit sowie durchschnittliche Leistungen in den Bereichen Altgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, figurale Lern- und Merkfähigkeit sowie bei einer Intelligenztestung. Anknüpfungspunkte für eine verminderte Schuldfähigkeit, zumal für die in der Vergangenheit liegenden Zeiträume, in denen der Beklagte stets (zumindest) den Anforderungen entsprechende dienstliche Leistungen erbracht hat, lassen sich diesem Befund nicht im Ansatz entnehmen.

Hinzu tritt schließlich, dass die Erheblichkeitsschwelle, die sich generell an schwerwiegenden Gesichtspunkten wie Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen, Folgeerscheinungen von Alkohol, Drogen oder Medikamenten messen lassen muss, umso höher liegt, je schwerer das begangene Delikt wiegt. Im Disziplinarrecht hängt die Beurteilung der Erheblichkeit von der Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflicht ab.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2. Dezember 2009 - 3d A 415/09.O - .

Bei dem Dienstvergehen des Beklagten geht es nicht um rechtlich oder tatsächlich schwierige Pflichtentatbestände, vielmehr handelt es sich um eine wirklich jedem Beamten ohne weiteres einsichtige Pflicht. Warum der Beklagte beim Erkennen oder Befolgen gerade dieser einfachen Grundpflichten unvermeidbar versagt haben soll, während er anderen beruflichen oder privaten Pflichten vollauf genügt hat, ist nicht nachvollziehbar. Selbst in dem von ihm als äußerst belastend empfundenen Zeitraum von 2004 bis 2006, in dem er seine erkrankte Ehefrau begleitet und unterstützt hat, ist er ohne jegliche Beanstandungen seinen dienstlichen Aufgaben nachgegangen. Dies macht deutlich, dass in der genannten Zeitspanne keine schuldeinschränkende psychische Erkrankung im Sinne einer ernsthaften Depression und auch keine maßgeblichen Auswirkungen eines - wann auch immer - erlittenen ersten Schlaganfalls vorgelegen haben. Jedenfalls hätten entsprechende gesundheitliche Einschränkungen angesichts der erfolgreichen Ausübung einer durchaus anspruchsvollen Tätigkeit keinen solchen Grad erreicht, dass der Beklagte darin gehindert worden wäre, das Rechtswidrige seines Tuns zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Zu Gunsten des Beklagten kann schließlich auch nicht von einer disziplinarrechtlich erheblichen Vernachlässigung der Dienstaufsicht durch Vorgesetzte ausgegangen werden. Im Disziplinarverfahren kann im Hinblick auf Zugriffsdelikte eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch Vorgesetzte unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Fürsorgepflicht oder des Mitverschuldens als Mitursache einer dienstlichen Verfehlung bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme berücksichtigt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für besondere Umstände vorlagen, die ausreichende Kontrollmaßnahmen unerlässlich machten, solche aber pflichtwidrig unterblieben oder nur unzureichend durchgeführt wurden.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13. April 2011 - 3d A 980/10.O - m. N.

Solche Umstände sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Beklagte arbeitete über einen langjährigen Zeitraum innerhalb eines breit gefächerten Aufgabenbereichs zuverlässig, sodass keine Veranlassung bestand, besondere Kontrollmaßnahmen durchzuführen. Der Umstand, dass die Weiterleitung der der im Sachgebiet Sprengstoffwesen vereinnahmten Gebühren an die Einnahmekasse des Fachbereichs nicht gesondert kontrolliert wurde, dem Beklagten also dadurch die Tatbegehung relativ leicht gemacht wurde, vermag diesen nicht zu entlasten. Möglichkeiten der Manipulation lassen sich nie völlig ausschließen; der Dienstherr muss sich auch bei unzureichenden Kontrollen bzw. Kontrollmöglichkeiten prinzipiell darauf verlassen können, dass die Arbeit ordnungsgemäß verrichtet wird.

Auch unabhängig von den anerkannten Milderungsgründen ergibt sich bei einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände der Taten und der Persönlichkeit des Beklagten ein endgültiger Vertrauensverlust.

Dies gilt zunächst hinsichtlich der von dem Beklagten hervorgehobenen Folgen des im August 2009 erlittenen Schlaganfalls. Der Beklagte mag seitdem, auch wenn ihm der oben angeführte "Bericht über neuropsychologische Behandlung" in dem Bereich Arbeitsgedächtnis keine Defizite, sondern durchschnittliche Leistungen attestiert, unter gewissen Ausfallerscheinungen und einer erhöhten Vergesslichkeit gelitten haben. Dass er die Gebühren seit dieser Zeit nicht bewusst, sondern nur aus Vergesslichkeit nicht weitergeleitet haben will, nimmt ihm die Kammer aber nicht ab. Der Beklagte setzte vielmehr ein seit langen Jahren eingeübtes Verhaltensmuster fort. Angesichts dessen und mit Blick darauf, dass er in den seit Dezember 2009 insgesamt von ihm bearbeiteten 33 Fällen keine einzige Gebühr weitergeleitet hat, lässt sich sein Verhalten mit schlichter Vergesslichkeit nicht erklären. Der Beklagte mag auch bereits zuvor zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt einen Schlaganfall erlitten haben. Dass dieser - in welcher Art auch immer - ursächlich für sein Fehlverhalten gewesen könnte, ist angesichts dessen, dass der Beklagte - wie oben bereits dargelegt - in der Vergangenheit seinen beruflichen und privaten Verpflichtungen nachgekommen ist und auch keinerlei Verhaltensauffälligkeiten aufgezeigt hat, nicht ansatzweise ersichtlich.

Auch die von der Staatsanwaltschaft F. vorgenommene - äußerst milde -strafrechtliche Einschätzung rechtfertigt keine dem Beklagten günstigere disziplinarrechtliche Bewertung. Dieser hat unter Ausnutzung der gegebenen Situation im Kernbereich seiner Dienstpflichten gefehlt. Das disziplinarrechtlich zu beurteilende Fehlverhalten erstreckte sich über einen Zeitraum von nahezu neun Jahren. Die Zahl der Einzelverfehlungen ist erheblich, der Schaden beträchtlich. Zudem hat der Beklagte nach Tatentdeckung auch nur schrittweise, dem ihm bekannten Stand der Ermittlungen entsprechend reagiert und nicht etwa bei dem ihm entgegengehaltenen ersten Verdacht das gesamte Ausmaß seiner Verfehlungen offenbart.

Angesichts der erheblichen Erschwerungsgründe können die langjährige untadelige Dienstzeit mit durchgängig ordentlichen dienstlichen Leistungen und die fehlende disziplinarrechtliche Vorbelastung nicht zu einem Absehen von der Verhängung der Höchstmaßnahme führen.

Bei der gebotenen Gesamtabwägung ist die Kammer auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu dem Ergebnis gekommen, dass aufgrund des hier vorliegenden endgültigen und vollständigen Vertrauensverlustes des Dienstherren und der Allgemeinheit in die Person des Beamten gemäß § 13 Abs. 3 LDG NRW seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erforderlich und angemessen ist.

Das Gericht hat keinen Anlass gesehen, die Gewährung des Unterhaltsbeitrages auszuschließen. Es gibt keine Gründe, den Beklagten als der Gewährung eines Unterhaltsbeitrages nicht würdig oder nicht bedürftig im Sinne des § 10 Abs. 3 LDG NRW anzusehen.


IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 3 LDG NRW i. V. m. § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R8742


Informationsstand: 13.08.2021