Episode 2 – Thema: Sag ich's?
In der zweiten Episode von „Teilhabe & Inklusion“ geht es um unsichtbare Erkrankungen und Behinderungen und darum, wie Betroffene im Arbeitskontext mit ihnen umgehen. Ob es auf die Frage „Sag ich’s oder sag ich’s nicht?“ eine eindeutige Antwort gibt und was Führungskräfte als auch Kolleginnen und Kollegen tun können, um bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, thematisiert Rufus mit seinen Gästen der Universität zu Köln, Frau Prof. Dr. Niehaus und Frau Dr. Jana Bauer. Beide sind in der Leitung des Projekts „Sag ich’s? Chronisch krank im Job“.
Transkription
Intro:
Gemeinsam Barrieren abbauen – Hallo und Willkommen zur neuen Ausgabe von „Teilhabe und Inklusion“ – der REHADAT-Podcast. Mein Name ist Rufus Witt und ich spreche mit Betroffenen, Beratungsstellen und Arbeitgebenden über die Barrieren des täglichen Lebens.
Rufus Witt:
Hallo und Willkommen zur zweiten Episode von „Teilhabe und Inklusion“. Schön, dass Sie wieder dabei sind. Heute geht es um ein Thema, das im Arbeitsleben weit verbreiteter ist als man vielleicht denkt: Um den Umgang mit unsichtbaren Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Ich als Vollblinder habe nicht die Wahl, ob ich im Arbeitsumfeld meine Behinderung offenbaren möchte oder nicht. Menschen mit psychischen Belastungen, Autismus oder Krebs zum Beispiel sind ihre Beeinträchtigungen oftmals gar nicht anzusehen. Sie können daher frei entscheiden, ob sie vor Kolleginnen und Kollegen oder vor Vorgesetzten diese Beeinträchtigung publik machen. Welche Vor- und Nachteile ein offener Umgang damit haben kann und was dabei helfen kann, eine Entscheidung zu treffen, es zu sagen oder nicht, darüber sprechen wir heute mit unserem Besuch aus der Universität zu Köln. Dazu begrüße ich Frau Professor Dr. Mathilde Niehaus und Frau Dr. Jana Bauer, beide in der Leitung des Projekts „Sag ich's? – Chronisch krank im Job“, gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die AbbVie Deutschland GmbH. Herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ja, danke für die Einladung.
Rufus Witt:
Sehr gerne.
Dr. Jana Bauer:
Hallo. Schön, dass wir da sein dürfen.
Rufus Witt:
Im Rahmen Ihres Projekts entstand die Website „Sag ich's?“ für Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen. Kern dieser Website ist ein interaktiver Selbsttest für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Was können Sie uns alles dazu erzählen?
Dr. Jana Bauer:
Also der Selbsttest, den kann man sich so ein bisschen vorstellen wie so Fragebögen, die man vielleicht auch aus manchen Zeitschriften kennt oder so was. Also es sind zu verschiedenen Themen Fragebögen hintereinander. Und bei den Themen haben wir aus wissenschaftlichen Studien, aus eigenen oder welchen, die andere durchgeführt haben, herausgefunden, welche Themen relevant sind für die Entscheidung „Sag ich's oder sag ich's nicht?“ Und auch dafür relevant sind, ob, wenn man es sagt oder es verschweigt, positive oder eher negative Konsequenzen eintreten werden – weil das ist ja das, womit man irgendwie ringt in diesem Entscheidungsprozess. Das heißt, wenn man in diesen Selbsttest geht, dann bekommt man eine Reihe von Fragen präsentiert. Manche sind zum Ankreuzen, bei manchen kann man auch offene Antworten eingeben. Und dann wird dieser Selbsttest ausgewertet. Da stehen jetzt keine Personen hinter, die den auswerten, sondern das ist automatisiert, diese Auswertung. Und trotzdem kriegt man dann individuelles Feedback in dem Sinne, dass eben bei jedem Fragenblock ein bestimmter Antwortbereich einer bestimmten Auswertung zugeordnet ist. Das heißt, ich mache es mal konkret: Beispielsweise haben wir den Themenblock „Der oder Die Vorgesetzte“. Und dann geht es darum, dass man darüber nachdenkt in meiner Situation am Arbeitsplatz: Welche Erfahrungen habe ich gemacht mit meiner Vorgesetzten oder meinem Vorgesetzten? Sind die unterstützend? Haben die in der Vergangenheit positiv reagiert, auch auf persönliche Anliegen zum Beispiel? Und dann kreuzt man sich so durch diese verschiedenen Fragen und am Ende wird ein Mittelwert berechnet aus diesen Fragen. Und wenn der im niedrigen Bereich liegt, dann kriegt man eine Antwort. Oder in der Auswertung kriegt man dann angezeigt, dass das eher dafürspricht, dass sie wahrscheinlich nicht so positiv reagieren wird, die Person. Wenn die in der Vergangenheit nicht unterstützend war und wenn man sehr hohe Werte hat, kriegt man eben die gegenteilige Auswertung, dass es wahrscheinlich ist, dass die Person auch in dem Fall positiv reagiert.
Rufus Witt:
Und hatten Sie diesen so etwas wie ein Selbsttest, so als eine Art große Lücke, als etwas Fehlendes identifizieren können, die geschlossen werden musste? Das war dann schon so eine Erkenntnis, die wichtig war, nehme ich an, oder?
Dr. Jana Bauer:
Ja, also es geht darum, was Niedrigschwelliges zu schaffen, was aber trotzdem seriös und wissenschaftlich fundiert ist. Weil das Problem ist ja, Personen, die in diesem Entscheidungskonflikt sind, und vor allem diejenigen, bei denen die Befürchtungen dominieren, die wollen jetzt auch nicht als erstes im Unternehmen auf die Interessensvertretung zugehen, um sich von der beraten zu lassen. Das heißt, die googlen erst mal, also die sind dann online und recherchieren, was sind rechtliche Rahmenbedingungen dieses und jenes. Und das war eben die Zielsetzung, dass wir niedrigschwellig dieses Angebot zur Verfügung stellen und dass das aber wirklich an den Bedarfslagen der Zielgruppe orientiert ist und gleichzeitig diese wissenschaftliche Fundierung hat. Und so sind wir auch methodisch vorgegangen, also wissenschaftliche Recherchen, eigene Befragung und diese Begleitung durch das Panel von Expert*innen mit chronischen Erkrankungen, die im Arbeitsleben schon einmal vor dieser Entscheidung standen und die uns im gesamten Projektprozess begleitet und unterstützt haben, sodass wir eben auch im Entwicklungsprozess in Bezug auf die Inhalte, aber auch in Bezug auf die optische und technische Gestaltung der Webseite immer die Rückmeldung hatten und das so machen konnten, dass wir jetzt hoffen, dass es wirklich so ist, dass diejenigen, die diese Unterstützung brauchen, die auch in der Form kriegen, dass sie weiterhilft.
Rufus Witt:
Ja, sehr schön. Konnten oder dürfen Sie eigentlich anonym erfassen, wie viele Menschen den Selbsttest bereits genutzt haben? Gibt es da Daten darüber?
Dr. Jana Bauer:
Ja, das können wir. Und die Daten, die sind anonym, die sind komplett anonym in dem Selbsttest. Und die können wir auch nutzen. Also da werden ja keinerlei persönliche Daten erhoben in diesem Selbsttest. Deshalb können wir auch diese Daten verwenden, um zu sehen, wie ist denn bei den Nutzerinnen und Nutzern im Durchschnitt zum Beispiel das Teamklima oder so was? Das haben wir jetzt bisher noch nicht gemacht, weil wir haben auch in der Webseite implementiert die Möglichkeit einer Nachbefragung. Und da konnten die Nutzerinnen und Nutzer der Webseite freiwillig angeben, ob sie bereit sind, an einer Nachbefragung teilzunehmen. Und die werden dann mit einem größeren Abstand zur Nutzung des Selbsttests nachbefragt. Also wie habe ich mich entschieden? Was ist dann passiert? Wie zufrieden bin ich damit? Und diese Daten haben wir leider auch noch nicht. Aber das ist natürlich dann ein ganz großer Datenschatz, sozusagen die Überlegungen, die wir vorher hatten, was die entscheidenden Aspekte sind, die dazu beitragen, einerseits, wie sich Leute entscheiden, andererseits auch, was dann passiert, wenn sie sich entschieden haben. Die können wir dann noch mal überprüfen anhand dieser Daten, den Selbsttest gegebenenfalls noch mal verbessern und auch insgesamt noch mehr dazu lernen, wie das eigentlich funktioniert mit diesen Offenlegungsentscheidungen. Genau. Und wir haben unterschiedliche Nutzerinnen und Nutzer des Selbsttests einerseits und in erster Linie natürlich diejenigen, die wirklich betroffen sind. Und es gibt auch Personen zum Beispiel, die im Integrationsfachdienst arbeiten oder Schwerbehindertenvertretung sind. Und so weiter. Die dann selbst mal durchklicken und dann gucken, was ist denn das und kann ich den weiterempfehlen? Die haben wir auch im Datensatz. Das heißt, wir haben da aber zum Glück eine Frage drin, wo wir das dann trennen können. Und es sind ungefähr 2000 Selbsttests, die jetzt von Betroffenen ausgefüllt wurden.
Rufus Witt:
Wenn wir jetzt mal so ein bisschen inhaltlich uns dem Test zu nähern oder der ganzen Thematik, dann tauchen da sehr, sehr viele Fragen auf. Man könnte sich als Frage beispielsweise vorstellen. Warum erzählen viele Betroffene ihren Arbeitgebenden denn nichts von ihrer Beeinträchtigung? Oder welche Vorteile hätte es, sich über die eigene Behinderung zu offenbaren?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ich glaube, die Frage warum erzählen viele nicht, was sie haben, ist eine, die natürlicherweise von ganz, ganz vielen sehr unterschiedlich beantwortet werden kann. Aber ich glaube, wo jeder als allererstes eine Antwort schon dafür hat, weil er auch spezifische eigene individuelle Erfahrung in diesem Bereich hat. Ich erzähle nicht über meine Erkrankung, möglicherweise weil ich denke, die anderen denken dann schlecht über mich. Die trauen mir nichts mehr zu. Vielleicht werde ich ausgeschlossen. Vielleicht kann ich dann auch meine Wünsche nach Kollegialität nicht mehr so ausleben. Und so weiter und so fort. Das ist sicherlich so ein Bereich, der so als erstes in den Sinn kommt und weniger und das ist das, was wir auch an Untersuchungen im Vorfeld haben feststellen können, weniger die Hoffnung, die damit einhergehen.
Dr. Jana Bauer:
Und man muss ja auch sagen, dass viele das bisschen als getrennte Bereiche wahrnehmen. Also mein Gesundheitszustand, das ist privat und die Arbeit, ist die Arbeit. Und solange, was ja bei vielen chronisch Kranken der Fall ist oder Menschen mit Behinderung, solange die nicht in Reibung kommen miteinander, wieso soll ich dann auf der Arbeit was erzählen, wenn ich doch gut klarkomme? Wenn es keinerlei Beeinträchtigungen gibt, warum soll ich was erzählen? Und dann kann es aber natürlich zu der Situation kommen: Die Arbeitssituation verändert sich oder die gesundheitliche Situation verändert sich. Und dieses Passungsverhältnis zwischen meinen gesundheitlichen Voraussetzungen und den Arbeitsbedingungen geht verloren. Und dann kommt eben diese Entscheidung neu auf. Und da spielen dann natürlich Befürchtungen eine Rolle, und das wissen wir eben aus der Forschung, wie Mathilde Niehaus eben auch schon angedeutet hat, dass wirklich zum Teil so ein großes Gewicht einnehmen kann. Die Sorgen, die damit verbunden sind, dass das, was man bekommen kann, auf der anderen Seite aus dem Blick verloren geht. Und das ist etwas, was für uns bei dem Selbsttest total wichtig war. Einerseits auch den glücklichen positiven Konsequenzen einer Offenlegung Raum zu geben und andererseits aber auch deutlich zu machen, dass das Nicht-Offenlegen, auch eine Entscheidung ist.
Es gibt diese beiden Optionen und nichts zu tun ist auch eine Entscheidung und die Nicht-Offenlegung hat ihre eigenen, positiven und negativen Konsequenzen. Die positiven sind: Ich kann als „normal“ in Anführungszeichen durchgehen. Ich kann Privates privat halten. Die Negativen sind aber, dass ich je nachdem auch Kosten des Verbergens habe.
Gerade wenn die Passung zwischen meiner gesundheitlichen Situation und den Rahmenbedingungen auf der Arbeit verloren geht, dann kann das unglaublich anstrengend sein, kräftezehrend sein, das weiter geheim zu halten.
Rufus Witt:
Stellt sich allgemein auch die Frage, warum es im privaten Umfeld manchmal auch leichter fallen könnte? Auch da könnte man ja befürchten, da wenn ich jemand jetzt noch nicht so sehr gut kenne, die Freundschaft ist noch nicht allzu eng geworden, dann könnte es ja auch vielleicht zu Nachteilen führen, dass ich da anders wahrgenommen werde oder nicht nur so akzeptiert werde. Aber trotzdem scheint es ja im privaten Umfeld dann noch im Vergleich zum Arbeitsumfeld doch mal leichter zu sein, sich zu offenbaren. Oder muss das auch dann nicht so sein?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ich glaube, das muss auch nicht so sein. Also klar hat die Arbeitswelt noch mal ganz spezifisch andere Herausforderungen für mich, weil es mich möglicherweise finanziell, existenziell bedrohen kann und damit die Befürchtung einhergeht. Aber ich glaube, genau so große Schwierigkeiten kann es auch geben, wenn man eine Erkrankung hat, wie beispielsweise eine AIDS-Erkrankung oder auch eine psychische Beeinträchtigung, dass man sehr wohl überlegt. Auch im privaten Kreis: Wem sag ich das und wie sage ich es und ist das wirklich nötig und welche Hoffnung gehen damit einher, aber auch welche Befürchtungen? Also ich glaube man kann das nicht einfach sagen: „Im Privaten ist es einfacher“.
Dr. Jana Bauer:
Also etwas, was ich noch hinzufügen würde, vielleicht sowohl im Privaten als auch im Beruflichen, ist, dass Personen auch einfach sehr unterschiedliche Stile des Umgangs grundsätzlich haben. Diese Entscheidung sag ich es oder sag ich es nicht, ist ganz untrennbar mit der eigenen Krankheitsbewältigung und Akzeptanz verbunden. Also wie sehr habe ich das akzeptiert, integriert in meinem Selbst, sozusagen, dass ich diese Erkrankung oder Behinderung habe. Wie sehr stigmatisiere ich das vielleicht auch selbst?
Also verinnerliche irgendwelche Vorurteile, Vorbehalte, die in der Gesellschaft vorhanden sind, selber und das hat natürlich großen Einfluss darauf, ob ich denke, das ist was, das man überhaupt sagen darf und kann oder ob ich das lieber geheim halten möchte und das hat natürlich auch Einfluss darauf, dass Personen, die im Unternehmen schon sind, diese etablierte Position nutzen, um das sichtbar zu machen oder auch nicht. Was wir schon wissen ist und das macht ja auch vielleicht Sinn, dass Personen in der Probephase, das eher nicht sagen. Also wenn es geht, dass sie es über die Probephase hinweg geheim zu halten.
Rufus Witt:
Ja, auch zum Thema eine aktuelle Frage zum Thema Corona-Zeit – Wie denken Sie denn über die Zunahme des in Anführungszeichen „sicheren Homeoffice“ jetzt in Corona?
Hat sich dadurch das Entscheidungsverhalten vielleicht verändert von Betroffenen? Inwiefern könnte es sich verändert haben? Denn es ist ja so, man muss sich einfach vorstellen: Vor Corona haben ja zum Beispiel alle Leute, die in Vollzeit arbeiten, mehr Zeit mit ihrem Kollegium verbracht als zuhause. Wenn man das mal zusammenrechnet und im Vergleich dazu kann man sich überlegen: Wie ist das, wenn man jetzt nicht mehr so oft in der Firma präsent ist, wie wirkt sich das aus oder wirkt es sich überhaupt aus?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Also vielleicht auch ein ganz praktisches Beispiel: Bei uns an der Universität war das zuvor vor Corona auch nicht üblich, dass zum Beispiel die Personen, die in der Verwaltung arbeiten oder auch im Bereich der Wissenschaft viel Zeit im Homeoffice verbringen.
Im Gegenteil, man war schon mit seinen Arbeitsverträgen dazu angehalten, pünktlich zur Arbeit zu kommen, mit der Stechuhr sozusagen, zu arbeiten. Nicht direkt im wissenschaftlichen Bereich, aber im Verwaltungsbereich schon und das hat sich jetzt ganz und gar verändert. Das wird sich auch bei REHADAT sicher verändert haben. Viele werden im Homeoffice sein und damit geht oder ging bei uns zum Beispiel an der Universität auch eine Befragung ein. Wie zufrieden sind Sie denn jetzt mit den Bedingungen, die jetzt herrschen? Da zeigt sich das doch und ich denke auch in vielen anderen Untersuchungen, dass das Homeoffice etwas ist, was gewünscht wird und man wird nicht mehr so zurückkommen in Vollpräsenz, sagen wir es mal so, und davon profitieren eben auch Menschen mit chronischen Erkrankungen und Beeinträchtigung. Dass die sagen, ich kann meinen Alltag in Kombination mit dem Homeoffice viel, viel besser organisieren. Die langen Wege entfallen. Ich kann zwischendurch kleine Ruhephasen vielleicht einlegen oder kann andere krankheitsbezogene Aktivitäten vollziehen. Aber nichtsdestotrotz und das ist das, was wir am Anfang auch versucht haben, ausfindig zu machen – auch nochmal jetzt unter Corona-Gesichtspunkten – wird das nicht von allen positiv erlebt und vor allen Dingen der Start des Lockdowns zum Beispiel nicht positiv erlebt, weil da auf einmal Personen sich auch, wenn sie zur vulnerablen Gruppe gehört haben, outen mussten und zwar zwangsouten mussten. Das war schon etwas, was vielen sehr, sehr schwergefallen ist und auch das Recht auf Verschwiegenheit quasi dadurch eingegrenzt war.
Rufus Witt:
Gab es den Test damals schon als Corona anfing?
Dr. Jana Bauer:
Nee, da waren wir noch mittendrin. Also wir haben sozusagen auch das Projekt fertiggestellt im Homeoffice, denn wir waren komplett im Homeoffice ziemlich lange mit unserem Team.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Auch die Auftaktveranstaltung oder Launch war digital.
Rufus Witt:
Nun vielleicht noch eine Frage in eine ganz andere Richtung: Wie viele trauen sich bereits im Bewerbungsprozess schon ihre Behinderung oder Beeinträchtigung zu nennen? Und wie viele machen das tendenziell erst später im Laufe des Arbeitsverhältnisses? Also dann insbesondere nach der Probezeit.
Dr. Jana Bauer:
Der ist ja nur für Menschen, die schon im Arbeitsleben stehen.
Aber uns ist natürlich bewusst, dass das gerade im Bewerbungsprozess auch eine ganz, ganz wichtige Frage ist, die sich Leute stellen und das ist auch was, was uns immer wieder zurückgemeldet wird. Könnt ihr den Test nicht ummodeln oder anpassen für Personen, die im Bewerbungsprozess stehen? Das ist auch was, was wir auf der Agenda haben. Man kann den jetzt schon auch dafür nutzen, indem man selber paar Fragen weglässt, zum Beispiel, die man nicht beantworten kann. Aber das ist was, wo wir für die Zukunft planen, dass wir da auch eine Variante noch mal zur Verfügung stellen.
Rufus Witt:
Gibt es eigentlich Hinweise darauf, dass sich Betroffene eher öffnen, wenn sie davon gehört haben, sich offenbaren, dass sich das positiv ausgewirkt hat und, dass es positive Erfahrungen gab von anderen Menschen mit Beeinträchtigung. Dass man weiß, meine Akzeptanz ist dadurch eher noch gestiegen als vielleicht weniger geworden. Hilft sowas auch?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Das sehen wir ja, dass so etwas hilft, beispielsweise bei diesen großen Kampagnen, Frauen in den mathematischen-naturwissenschaftlichen Bereichen sichtbar zu machen. Und so wäre im Prinzip, das auch zu denken, in dem Fall von chronischen Erkrankungen und Beeinträchtigung. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder auch Führungskräfte, die selbst eine Beeinträchtigung haben und damit auch offen umgehen, können natürlich genau das sein: Ein Vorbild, mit dem ich dann mich identifizieren kann in der Art und Weise des Umgangs beispielsweise der chronischen Erkrankung und manche Prominente, die beispielsweise in der Politik sind, offenbaren ja auch ihre Erkrankungen und werden dann für manche auch Heldinnen oder Helden in dem Bereich.
Dr. Jana Bauer:
Und im Selbsttest ist es in der Form abgebildet, dass das ja schon auch ein Teilaspekt, je nachdem auf welcher Ebene diese andere Person ist, die sich offengelegt hat, ein Teilaspekt entweder der Unternehmenskultur als Ganzes ist oder eben des Teamklimas.
Das sind Teilaspekte, die wir abfragen und wo das dann ja auch einfließt, wie sichtbar ist dieses Thema überhaupt im Unternehmen und habe ich das Gefühl, das ist etwas, was man hier sagen kann oder nicht. Und natürlich hat das mit den eigenen Erfahrungen damit zu tun. Andere haben es gesagt, was ist dem passiert – ist ja ganz klar.
Rufus Witt:
Wie ist das denn? Sind Tendenzen zu erkennen, ob eher in kleineren oder größeren Unternehmen eine Offenheit stattfindet? Oder gibt es vielleicht noch ganz andere Kriterien, an die man gar nicht denkt, die da eine Rolle spielen als die Unternehmensgröße? Vielleicht auch bestimmte Form von Unternehmenskulturen, die man miteinander vergleichen könnte?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ich glaube, die Größe an sich ist keine Möglichkeit vorherzusagen, ob ich mich häufiger oder überhaupt offenlege oder etwas zu meinen chronischen Erkrankungen sagen kann. Zumindest gibt es dazu keine Daten.
Dr. Jana Bauer:
In kleinen Unternehmen läuft vieles natürlich persönlicher. Das ist von Vorteil, wenn es gut läuft. Das ist von Nachteil, wenn es schlecht läuft.
Die großen Unternehmen haben oft den Vorteil, dass die eben diese etablierten Interessenvertretungen haben. Also wenn ich jetzt bei meinen direkten Vorgesetzten, zum Beispiel, einen schlechten Draht habe, habe ich noch andere Personen im Unternehmen,
die mich unterstützen können und wie sich das dann im spezifischen Unternehmen auswirkt, das ist eben unterschiedlich. Nicht von der Unternehmensgröße, von der Unternehmenskultur auf jeden Fall. Auf jeden Fall. Das ist eins der entscheidendsten Kriterien. Also man kann sagen, dieses Kultur-Thema, das dekliniert sich halt durch, von ganz oben über Abteilungen, Teams, Führungskräfte. Wie wird das da gelebt? Wie wird damit umgegangen, wenn Leute Schwächen zeigen? Wenn Menschen unterschiedlich sind, wenn sie von Erwartungen abweichen? Wie wird mit Gesundheitsthemen insgesamt umgegangen im Unternehmen? Das sind so Marker, wo man eigentlich dran erkennen kann oder wo die Leute auch intuitiv fühlen, dass das was mit ihrer Entscheidung zu tun hat und das beziehen sie dann ein.
Rufus Witt:
Was glauben Sie? Was können Unternehmen dazu beitragen, dass man sich noch eher traut, sich zu öffnen? Welche Faktoren können da reinspielen? Was kann ein Unternehmen selbst tun, ob nur die einfache Führungskraft oder die Unternehmens- /Geschäftsleitung, um so ein Thema voranzubringen?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ich glaube, Unternehmen, Betriebe, Institutionen können ganz viel dazu beitragen. Das Wichtige ist vor allen Dingen, dass das auch glaubwürdig ist und gelebt wird. Also wir kennen ja beispielsweise jetzt dieses „Greenwashing“, wo Unternehmen sagen „Wir sind die Nachhaltigsten und die Umweltfreundlichsten!“ – und haben dazu unterschiedliche Papiere, Siegel und so weiter. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass das mehr Show ist als wirklich ernsthaftes Bemühen um Umweltsicherung. Und genau dieses muss natürlich auch erlebbar sein in den Unternehmen, wenn es um Akzeptanz von chronischen Erkrankungen geht und hilfreich ist dabei eine aktive Arbeit auch der Interessenvertretung, der Schwerbehindertenvertretung, der Personal- und Betriebsräte, aber vor allen Dingen, auch dann in guter Kombination mit dem Gesundheitsmanagement im Unternehmen. Und das sind so Akteure, die sehr viel dazu beitragen können, dass das Thema positiv erlebbar wird.
Rufus Witt:
So jetzt haben wir gehört, was Unternehmen so alles tun können, um zu helfen oder zu unterstützen. Ihr Projekt ist ja nun ausgelaufen.
Da stellt sich die Frage, gibt es denn neben positivem Feedback auch weitere konstruktive Verbesserungsvorschläge, Anregungen, vielleicht sogar kritische Stimmen?
Dr. Jana Bauer:
Weniger, aber schon auch, also insbesondere in Bezug auf die Komplexität der Auswertung. Also weil man schon auch ja eine komplexe Auswertung bekommt und auch der Aufwand, diesen Selbsttest auszufüllen, der ist schon groß. Und gerade für Personen mit manchen Beeinträchtigungen, die die Aufmerksamkeit auch betreffen zum Beispiel oder die Entscheidungen auch erschweren. Also im Grunde ist ja auch so ein Fragebogen immer wieder eine Entscheidung. Wo setze ich jetzt mein Kreuzchen? Und das ist auch für manche Personen einfach sehr anstrengend und das verstehen wir auch. Für die ist das dann manchmal nicht so passend. Also das sind Rückmeldungen, die wir schon bekommen haben.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Ja oder beispielsweise das, was Jana Bauer vorhin auch gesagt hat, die sich erhoffen, wenn sie beispielsweise in einer Bewerbungssituation sind, mit diesem Test auch die Entscheidung für die Bewerbungssituation zu bewältigen und die sehen sich dann nicht hundertprozentig abgeholt mit diesem Test, weil wir den ja für Personen, die schon im Erwerbsleben sind am Arbeitsplatz, gestaltet haben.
Dr. Jana Bauer:
Und was total interessant ist: Also Unternehmensvertreter*innen, die melden dann zurück. Also deren Haltung ist oft, wenn wir in Präsentationen oder so sind, es ist doch besser für alle, wenn man es sagt und die sind dann skeptisch. Also das sagen wir nicht nur, sondern es ist tatsächlich so, dass das Ergebnis offen mit diesem Selbsttest ist. Es kann auch nachher in dieser Übersicht, die überwiegende Mehrheit der Themen dagegen sprechen, dass man es sagt und dann sehen die Leute das natürlich und das macht dann Unternehmen irgendwie skeptisch. Die denken dann so „Hups. Verlieren wir dann die Chance, von den Leuten zu erfahren, dass sie eine Beeinträchtigung haben?“. Wir sagen ja, dann wahrscheinlich zu Recht, dann sollten Sie ein bisschen an ihrer Unternehmenskultur arbeiten.
Rufus Witt:
Ist ja schön, dass sich Unternehmen überhaupt für das Thema interessieren und darauf auch mal reagieren.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Jaja, viele Unternehmen interessieren sich genau dafür, aber eher mit dieser Grundhaltung: Offenbarung ist der Königsweg. Und nur wenn wir wissen von den Mitarbeitenden, ob Sie eine Erkrankung haben, können wir auch etwas tun und von daher gibt es ein großes Interesse. Also viele Veranstaltungen, die wir auch gemacht haben, haben wir entweder in einer sozialpartnerschaftlichen Kombination gemacht, aber auch vor unterschiedlichen Unternehmen selbst.
Rufus Witt:
Wenn man von bestimmten Behinderungen oder vielleicht sogar Schwerbehinderung weiß, kann man auch in der Ausgleichsabgabe sparen. Vielleicht ist es auch nur ein Aspekt, der die Unternehmen interessiert.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Absolut. Nur es wäre ein Fehlschluss anzunehmen, dass man damit, mit der Einführung eines solchen Selbsttests, automatisch die Erhöhung der Schwerbehindertenquote erreichen kann. Aber es ist ein gutes Instrument, denken wir auch, zur Sensibilisierung für die Fragestellung für den Umgang in Unternehmen. Also es hat auch ein nicht nur individuellen beratenden Charakter, sondern wir können auch sagen, für das Thema zu sensibilisieren, um es überhaupt im Unternehmen auch platzieren zu können, ist so ein Test auch geeignet.
Dr. Jana Bauer:
Und wir haben jetzt ja sehr viel über den Selbsttest gesprochen. Der ist ja auch das Kernelement, sozusagen, aber die Webseite ist ja mehr. Es gibt ja sehr, sehr viele Informationstexte auch zu verschiedenen Themen, die in Zusammenhang mit diesem Entscheidungskonflikt stehen, Informationen zu rechtlichen Rahmenbedingungen, Informationen zu: „Wenn ich die Entscheidung getroffen habe, wie kann ich sie umsetzen?“. Und diese ganzen Materialien sind natürlich auch interessant für andere Personen im Unternehmen, die überhaupt mal verstehen möchten: Worum geht es denn hier überhaupt? Also das heißt, das ist auch wirklich etwas – auch wenn es sich in erster Linie an Personen mit chronischen Erkrankungen richtet – was andere Personengruppen auch gut nutzen können.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Und das kriegen wir auch als Rückmeldung häufiger, dass diese Informationen so schön da auch gebündelt sind, dass Beratende das auch gerne nutzen. Und das hört man bei Frau Bauer ja auch heraus, sie selbst ist auch total begeistert davon, wie gut das doch im Endeffekt hat gelingen können, diese Vielfalt und Komplexität auch des Themas chronische Erkrankungen im Arbeitsleben zusammenzustellen.
Rufus Witt:
Ja, das war ja sehr für sehr viel interessantere Informationen, die wir von Ihnen erhalten haben. Als Abschluss könnte man noch Fragen: Abgesehen vom Selbsttest, haben Sie noch einen weiteren Ratschlag für Betroffene?
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Also wenn man sich schon mit der Webseite „Sag ich’s?“ auseinandergesetzt hat und dort auch den Selbsttest ausprobiert hat, ausgefüllt hat, dann raten wir dazu oder denken, es ist eine gute Möglichkeit mit Expertinnen und Experten in anderen Beratungsstellen darüber dann ins Gespräch zu kommen. Also nicht nur für sich allein und mit sich allein die Entscheidung fällen.
Dr. Jana Bauer:
Und es lohnt sich auch, das als Entscheidung anzusehen überhaupt. Also nicht einfach nur so diesen Status quo auszuhalten. Irgendwie gibt es ein Problem, aber ich sage nichts und ich halte das weiter aus, sondern sich wirklich bewusst mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und da hoffen wir, dass das niedrigschwelligen Einstieg bieten kann, der einem hilft, so ein bisschen dieses Chaos im Kopf, was da vielleicht auch entsteht und diese ganzen Ängste so ein bisschen einzufangen. Und so ein bisschen Ordnung da reinzubringen.
Rufus Witt:
Ja schön, dann bedanke ich mich für das Gespräch. Schön, dass Sie hier waren. Wir haben sehr viel Wertvolles erhalten und unsere Zuhörerschaft hoffentlich auch.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus:
Danke
Dr. Jana Bauer:
Vielen Dank. Schön, dass wir da sein durften.
Rufus Witt:
Gerne. Weitere Infos finden Sie zum einen natürlich auch auf „sagichs.de“ oder auch auf „rehadat.de“. Vielen Dank, dass Sie heute wieder zugehört haben und bis zum nächsten Mal. Tschüss!